„stolpern“
Ein theaterpädagogisches Kooperationsprojekt zwischen dem Piccolo Theater Jugendklub und dem Jugendclub der Schaubühne Berlin
Leitung: Matthias Heine, Mai-An Nguyen / Premiere 10. Juni 2022, gesehen am 11. Februar 2023
Lohnt es sich, mehr als ein halbes Jahr nach dessen Premiere über ein Stück zu schreiben, dass vielleicht nicht einmal mehr aufgeführt werden wird.
Die einfache – jedoch zugleich immer zutreffende Antwort ist: Bei den Inszenierungen des Piccolo Theater Jugendklubs lohnt es sich immer!
Eine etwas längere Antwort gibt vielleicht die folgende Betrachtung.
Im Jahr 2010 steht in den Besetzungslisten des Piccolo Jugendklubs mehrfach der Name Mai-An Nguyen.
Sie spielte in „BLACKBOX“ und „Die Gitter schweigen“ und war zu dieser Zeit bereits seit mehreren Jahren Mitglied des jungen Ensembles. Diese Besetzungslisten lesen sich heute wie das „Who’s Who“ eines Inkubators von Personen, von denen nicht wenige heute sehr interessante Positionen und Rollen im Kulturleben, weit über Cottbus hinaus, einnehmen. So habe ich mir gerade ein Büchlein von Ruth-Maria Thomas gekauft, ist Florian Donath dauernd im Radio zu hören und Lucie Thiede auf der Bühne zu sehen. Ansehen kann man Filme von Clemens Schiesko oder eben Stücke von Mai-An Nguyen. Die heute an der Schaubühne Berlin Leiterin der Theaterpädagogik ist und gemeinsam mit Matthias Heine „stolpern“ inszenierte.
Die Aufzählung ist unvollständig.
Dieser Inkubator Piccolo Jugendklub, unter Leitung des Geburtshelfers Matthias Heine, hat inzwischen Generationen junger Menschen gezeigt, was in ihnen steckt und so Perspektiven für´s Leben geöffnet.
Schon im Mai 2008 fragte ich Matthias am Rande des mit ihm geführten Lebens-KUNST-Interviews*: Wie machst du das eigentlich, immer und immer wieder diese unglaubliche Qualität der Arbeit zu erreichen? – Ich stellte mir vor, dass es doch, wie bei vielen Lehrern, zu einer ewigen Wiederholung kommen müsste. Immer wieder neue Jugendliche, immer die gleichen Themen, immer die gleichen Mittel und Methoden – mit dem Ergebnis negativer Routine und Langeweile.
Ich weiß seine Antwort nicht mehr, kann jedoch heute selbst eine geben: Matthias hat etwas zu sagen. Die „immer neuen Jugendlichen“ haben etwas zu sagen. Und ja, es sind immer Themen, die Jugendliche bewegen. Und ja, die sind auf der Bühne, seit wir Theater kennen. Bei vielen dieser Themen ist ihre Zeitlosigkeit bedauerlich, weist sie doch darauf hin, dass wir Menschen uns offenbar nicht ändern.
Womit wir im Heute sind, bei „stolpern“.
Vordergründig geht der Titel auf Stolpersteine zurück. Messingsteine, die seit 1992 in vielen Städten Europas an Menschen erinnern, die den Terror der Nazizeit nicht überlebt haben.
„stolpern“ wird hierbei konkret, wird sehr berührend konkret. Die Jugendlichen werden zu einigen dieser Menschen und bringen uns deren Leben (und frühes Sterben) in den unterschiedlichsten Ausdrucksformen nahe. Vom Tanz bis zur Performance (Choreografie: Zaida Ballesteros Parejo), vom Spiel direkt auf der Bühne bis zu (Live-)Einspielern aus dem Off. Intensität, Authentizität, Tempo, Timing und Können sind beeindruckend. Da stimmt einfach alles – entsprechend stark ist die Wirkung.
Da ist eben keine Spur von negativer Routine oder Langeweile. Trotz 17(!)-jähriger Leitung des Theater Jugendklubs durch Matthias Heine.
Leider zwangsläufig stolpern die heutigen Jugendlichen nicht nur über die Vergangenheit sondern über die erneute Wiederholung der Geschichte. Nicht weit entfernt davon, wie sich die Entwicklung vor 1933 abzeichnete, erscheinen viele der Ereignisse seit Pegida, AfD, Zukunft Heimat & Co.
Papst Leo XIII. prägte vor mehr als 120 Jahren den Ausspruch: „Wo Recht zu Unrecht wird, wird Widerstand zur Pflicht, Gehorsam aber zu Verbrechen.“ – die Worte werden heute oft Brecht zugeschrieben, doch er verkürzte sie nur auf deren ersten Teil – der heute, vollkommen ekelhaft, ausgerechnet von Neu-Rechten, Verschwörungstheoretikern und sonstigen „besorgten Bürgern“ missbraucht wird.
Nein, Ihr Dumpfbacken, dafür sind weder Sophie Scholl noch Rosa Luxemburg gestorben.
Und dann sind da noch Ereignisse, von denen man sich jahrzehntelang überhaupt nicht vorstellen konnte, dass sie in Europa erneut geschehen. Schienen doch Kriege – hier bei uns – nach dem Zerfall des Ostblockes und dessen (teils) demokratischem Wiedererwachen undenkbar. Es schien gar keine Feinde mehr zu geben.
Doch das war und ist falsch. Demokratie ist unvollkommen und äußerst fragil. Neue Fundamentalisten und alte Rückwärtsgewandte stellen sie permanent in Frage. Und oft sind die amtlichen Verteidiger der Demokratie nicht sonderlich aufmerksam. Da mordet hier ungestört der NSU, rast dort Anis Amri in den Weihnachtsmarkt am Breitscheidplatz oder radikalisieren sich Pseudolinke in der Rigaer Straße.
Nicht zu vergessen Klimakrise, Energiekrise, Rassismus, Geschlechterungerechtigkeit, Corona …. – genau an dieser Stelle ist „stolpern“ kurz dabei, sich zu verzetteln. Denn alles in ein Stück zu packen kann nicht gelingen. Wenn auch genau die Kombination all dieser Probleme die Realität der Zeit ist. Multiple Krisen nennt man das seither – klingt dann längst nicht mehr so bedrohlich – fasst die damit verbundenen Herausforderungen im politischen Sprachgebrauch aber schön einfach zusammen.
„stolpern“ bekommt die Kurve und findet zurück zum Kern – in einem sehr bewegenden Finale.
Beeindruckend. Danke. Vielen Dank.
Text: Jens Pittasch
Mit: Lapo Biasutti, Courtney Bischoff, Mate Böckenhauer, Bianca Ehrecke, Anne Fiedler, Lennard Gantzer, Jan Heider, Florian Jähne, Pola Juniewicz, Leonhard Lorenz, Zuzanna Pacholska, Norah Scharnholz, Magdalena Schmukal, Dennis Selka, Fanny Struve, Taha Temel, Lina Zegenhagen, Jula Zwicker.
Bühne: Ulla Willis, Kostüme: Vanessa Sampaio Borgmann, Choreografie: Zaida Ballesteros Parejo, Musik Jacob Gerhardt, Dramaturgie: Marcus Peter Tesch, Künstlerische Mitarbeit: Aaron Aschenbach, Jule Fuchs, Carolin Schaefer
Das Projekt wird von der Stiftung Erinnerung, Verantwortung und Zukunft (EVZ) und dem Bundesministerium der Finanzen (BMF) gefördert.