VOM NEUEN. IM HIER UND JETZT – und: Die vier Sterne.

Vom Neuen. Im Hier und Jetzt - Szenenfoto

VOM NEUEN. IM HIER UND JETZT – und: Die vier Sterne.

über eine Premiere – und Neuigkeiten vorab

Vor 25 Jahren sollte das Cottbuser Staatstheater einer seiner vier Sterne verlieren.
Gemeint waren die vier Sterne des Theaterlogos, die als die vier Sparten des Hauses gesehen wurden: Musiktheater, Schauspiel, Ballett und Orchester.

Staatstheater Cottbus, Logo

Aus Kostengründen fiel die politische Entscheidung, das Ballett als eigenständige Sparte aufzulösen.
Schon damals gelang es der Leitung des Hauses, immerhin acht Stellen für Tänzerinnen und Tänzer ins Musiktheater zu übernehmen – und niemals gab man im Theater die Eigenständigkeit des Balletts auf.
Auch mit dieser Minimalzahl im Ensemble gelangen weiterhin beachtenswerte und vom Publikum hoch anerkannte, eigene Inszenierungen.
Dies besonders seit 2006, als Dirk Neumann die Stelle des Ballettmeisters erhielt.
Ihm gelang es immer wieder, auch größere Arbeiten auf die Bühne zu bringen. Geschickt wurden verschiedene Fördermöglichkeiten genutzt, um Gäste zu engagieren und großes Ballett zu zeigen. Was sich niemals auf die Anzahl der Personen als Merkmal der Größe bezieht, sondern ganz besonders auf eine Stetigkeit und Besonderheit der Qualität.
Das Ballett entwickelte sich in der Leitung von Dirk Neumann zunehmend zu einem der Stabilitätsanker des zeitweise doch sehr volatilen Gebildes Staatstheater.
Im Jahr 2018 zeigten Beharrlichkeit, Engagement, Können und die hohe Beliebtheit beim Publikum auch politische Wirkung – das Ballett wurde erneut zur eigenständigen Sparte, alle vier Sterne strahlten wieder offiziell.
Dirk Neumann, nun Ballettdirektor, stand jedoch weiterhin vor der Herausforderung, mit zwischenzeitlich nur noch sieben festen Stellen nicht nur hochwertiges Ballett zu zeigen, sondern auch viele Inszenierungen des Musiktheaters tänzerisch zu unterstützen. Die Belastung für Tänzerinnen und Tänzer und die lediglich zwei Personen im Hintergrund war außerordentlich und oft jenseits des Zumutbaren.
Diese Situation führte nicht dazu, den Kopf in den Sand zu stecken. Das Gegenteil geschah. Die gezeigten Arbeiten jagten sich quasi gegenseitig die Rekorde der Leistungen ab, in einfach jeder künstlerischen Betrachtungsweise. Und die Besucherinnen und Besucher bestätigten nicht nur mit Begeisterung, Anerkennung und hohen Auslastungszahlen diese Erfolge, sondern übertrugen die Energie zurück an alle Beteiligten.
Auch auf politischer Seite konnte das auf Dauer nicht unbemerkt bleiben.
Iris Dönicke, kaufmännische Geschäftsführerin, sagte dazu vor der Premiere: die Ballettsparte hat herausgestochen bei der Zustimmung durch das Publikum, sehr viele Vorstellungen sind ausverkauft, die Sparte hat überzeugt, das war der ausschlaggebende Punkt.
Der ausschlaggebende Punkt? Wofür?
Für eine Cottbuser Ballett-Compagnie mit zukünftig 13 Stellen, elf davon fest am Haus angestellt, zwei weitere im Zuge eines wieder ins Leben gerufenen Eleven-Programms.
Die Bedeutung dieser Erweiterung ist kaum hoch genug einzuschätzen.
Selbstverständlich ist es Ausdruck der mehr als berechtigten (und mehr als überfälligen) Anerkennung der bisherigen Arbeit. Besonders jedoch ist es eine Aufwertung des gesamten Staatstheaters und somit auch der Stadt Cottbus. Ein Stück Boomtown, wenn man so will, zumindest jedoch ein wichtiger Baustein, damit dieses Marketingschlagwort der Stadt realistischer werden kann.
Glückwunsch an Dirk Neumann und seine wunderbaren Tanzkünstler.

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VOM NEUEN. IM HIER UND JETZT

Dreiteiliger Ballettabend mit Choreografien von Jörg Mannes und Ihsan Rustem Premiere am 25. März 2023

„Das ist meine Vorstellung von Ballett und Tanz im 21. Jahrhundert!“,
sagte Dirk Neumann am späten Abend auf der Premierenfeier.
Ja, danke – so ist es. Danke. Bitte mehr davon!

Zu Feiern gab es eine Menge. – Ich gehe schon recht lange in unser Theater. Und habe mehrfach euphorisch über die Arbeiten unseres Balletts berichtet. Dass jedoch das Publikum noch während sich der Vorhang senkt von den Plätzen springt und der Jubel kaum enden mag, daran kann ich mich nicht erinnern. Wenn der Begriff ´tosender Applaus´ demonstiert werden sollte, war das an diesem Abend der Fall.

Voraus gingen drei Choreografien der Sonderklasse.

Gleich in der ersten, LUX – einem Ballett von Jörg Mannes mit Musik von Giovanni Sollima, kam ein äußerst faszinierender Mitspieler hinzu – Nomen est omen: Das Licht.
Im Bühnenbild von Thomas Rupert wirkt das Licht als eigenständiger Akteur. Mal erscheint es als Betrachter, mal schafft es Klarheit, dann verbirgt es im Schatten oder lässt die Wirklichkeit diffus werden – immer wieder entstehen für die Tänzerinnen und Tänzer neue Dimensionen. Licht und Musik, Körper und Bewegung verschmelzen in einem Moment und werden im nächsten hart getrennt. Nach kurzer Ruhe und nachdenklichen Augenblicken treibt das Cello von Giovanni Sollima das Geschehen wieder und wieder voran und eröffnen sich weitere, jeweils noch überraschendere Blickwinkel aus Schatten und Licht, Zwielicht und Bewegung.

Nach der Pause folgt YIDAM – ein Ballett von Ihsan Rustem mit Musik von Michael Gordon.
Das Licht behält auch hier eine wichtige Bedeutung, zu einer ganz besonderen Herausforderung jedoch wird die Musik. „Yidam“, so verrät das Programmheft, ist ein tibetisches Wort für die enge Verbindung von Körper und Geist in der Meditation. Und der Text weist bereits darauf hin, dass Gedanken, Bilder und Empfindungen auf dem Weg dorhin durcheinander wirbeln können.
Was das jedoch, musikalisch und tänzerisch bedeutet, lässt sich vorab nicht erahnen und auch kaum beschreiben. Sagen wir es so: Das Wort „atemlos“ erhält mit dieser Inszenierung endlich wieder eine richtig gute Bedeutung (gute Besserung für die Rippenfraktur Frau Fischer).
Die Musik von Michael Gordon ist zunächst wirklich anstrengend. Und tatsächlich überhaupt nicht so, wie man sich eine Meditation wünscht oder vorstellt. Das Faszinierende ist dann jedoch, wie die Choreografie von Ihsan Rustem diese Musik durch den Tanz quasi in eine gemeinsame Sprache übersetzt – und nicht nur erträglich macht, sondern alles zu einem ganzheitlichen Ereignis werden lässt. Das gesamte Stück ist eine Meditation, von Atemlosigkeit bis zu innerer Einkehr, von Irritation zu Beginn bis zur Einsicht in die Fähigkeiten der Kunst, uns zu erreichen, zu bewegen und auch zu verändern.

LE FIL ROUGE – bringt nach der Meditation die Leichtigkeit in den Abend, keinesfalls jedoch Leichtfertigkeit. Das Ballett, ebenfalls von Ihsan Rustem, ist eine Collage aus Musik von Yma Sumac, Barbara, Doris Day, Postmodern Jukebox und La Lupe.
Ob Mambo oder Perhaps, Piaf oder Creep – alles scheint nun leicht, fast spielerisch – das soll es auch, doch um diese Wirkung zu erzielen, werden stilistisch sehr verschiedene Mittel in außerordentlichen Ausdrucksweisen gezeigt. Mal kann man das Thema eines Titels im Tanz fast ablesen, dann wieder scheint die Bewegung als Improvisation zur Musik. Le Fil Rouge ist der Rote Faden – die Verbindung, die er hier zieht, umgesetzt in tänzerischer Perfektion, ist weniger als Durchgängigkeit zu verstehen, als als Einheit der Vielfalt.
Womit sich auch der Kreis zu einer der Grundideen fernöstlicher Philosphie schließt und zu Yidam.

Die Ansprüche an die Tänzerinnen und Tänzer über alle drei Teile des Abends hinweg sind enorm. Und die Umsetzung absolut einzigartig.
Was für Leistungen!
Was für eine Reaktion des Publikums.
Es war sehr beeindruckend – vermutlich schaue ich es mir nochmals an.
Vielen, vielen Dank.
„Das ist meine Vorstellung von Ballett und Tanz im 21. Jahrhundert!“

Text: Jens Pittasch

Ab 28. März ist die Inszenierung bis Mai 2023 zunächst nur weitere fünfmal im Programm.

Besetzung, Informationen und Karten:
https://www.staatstheater-cottbus.de/programm/vom-neuen-im-hier-und-jetzt/

alle Fotos: Frank Hammerschmidt

BESETZUNG

Vom Neuen. Im Hier und Jetzt - Besetzung LUX
Vom Neuen. Im Hier und Jetzt - Besetzung YIDAM
Vom Neuen. Im Hier und Jetzt - Besetzung LE FIL ROUGE

*) Gefördert durch die Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Medien im Programm NEUSTART KULTUR, Absolvent:innen-Förderung DIS-TANZ-START des Dachverband Tanz Deutschland.

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