ENDSTATION SEHNSUCHT – clash of cultures

ENDSTATION SEHNSUCHT - Szenenfoto

ENDSTATION SEHNSUCHT – clash of cultures

ENDSTATION SEHNSUCHT
Ballett von Martin Chaix
Nach dem Stück „A Streetcar Named Desire“ von Tennessee Williams
URAUFFÜHRUNG

Premiere am 24. Februar, Staatstheater Cottbus

Hinter einer Gaze ist die Bühne offen.
Was ich sehe, weckt sogleich eine unschöne Assoziation zu „Einer flog über das Kuckucksnest“ – gleich wird McMurphy (Jack Nicholson) die Heizung von der Wand reißen…
Oh nein, eine Heizung ist nicht da. Jack Nicholson auch nicht. Eine Frau sitzt im weiß-grauen Raum.
Noch bevor sich meine Gedanken in diese Richtung weiterentwickeln, lässt Martin Chaix (Choreografie) einen zum anfänglichen Bild starken Kontrast entstehen. Drei Tanzpaare bieten einen vollkommen fröhlichen Auftakt.

Die Vorlage zum Cottbuser Ballett liefert Tennessee Williams´ Drama „A Streetcar Named Desire“, wörtlich etwa: Eine Straßenbahn namens „Wunsch“.
Bereits über den deutschen Titel streitet die Fachwelt trefflich, über die Interpretation des Stückes noch mehr.

Vielleicht kann man die Handlung vereinfacht als das Zusammenprallen von Kulturen erklären.
Was bereits den programmierten Aufschrei der Verharmlosung des frauenfeindlich-gewaltbereiten Verhaltens enthält, das die Handlung in einem wichtigen Teil bestimmt – und eben doch nur einen Auszug des Ganzen umfasst.

Williams´ Stück tänzerisch zu gestalten ist eine geniale Idee.
Gestattet es doch eine unglaubliche Tiefe der Empfindungen – unter gleichzeitiger Vermeidung aller durch Sprache entstehenden (Miss-)Verständnisse.

Ganz besonders gilt das für diese Cottbuser Umsetzung!
Bereits in den vergangenen Jahren entwickelte Dirk Neumann sein Ensemble zu einer Compagnie, die eine sehr weit über das Tänzerische hinausgehende Ausdrucksstärke zeigt.
Zugleich war das Ballett des Staatstheaters nicht nur in künstlerischer und wirtschaftlicher Hinsicht ein Anker- und Stabilitätsfaktor in teils verwirrenden Zeiten unseres Theaters, sondern ein internationales Qualitätsmerkmal für hochwertigste Kunst.
Tänzerinnen und Tänzer rund um den Globus streben an unser Haus und tragen den besten Ruf, den Dirk Neumann aufgebaut hat, in die Welt.
Wo sonst kann Cottbus das bieten?

Dirk Neumann hat diesmal nicht selbst inszeniert, doch es ist sein Wirken, das wir erleben dürfen. Unter Leitung durch Dirk Neumann leider das letzte Mal – sein Vertrag wurde durch Intendanten Märki nach 19 Jahren nicht verlängert. Das zu kommentieren, gehört nicht hierher – doch als Cottbuser schäme ich mich.

Wie war das am Anfang? Kulturen prallen zusammen.
Und es fällt allzu oft schwer, daraus Konstruktives zu machen.

So erreicht uns auch Tennessee Williams Vorlage in einer Zeit der Konflikte, die man sich noch vor zehn oder auch fünf Jahren nicht vorstellen konnte.
Bei Williams treffen polnisch-stämmige Einwanderer auf in der Vergangenheit hängengebliebene Südstaatenaristokraten, trifft rücksichtsloses Streben nach persönlicher Macht und materiellem Vorteil auf eine Illusion der „besseren Gesellschaft“.

Damals wanderten Osteuropäer in großer Zahl nach Amerika ein.
Wir tun uns heute schwer damit, auf den Zustrom der Flüchtlinge aus verschiedensten Regionen zu reagieren.

Die Cottbuser Tanzfassung versucht keine Einreihung in die Vielzahl der Deutungen, sie erzählt eine Geschichte und überlässt die Einordnung des Erlebten den Besuchern.
Diese Erzählung verwendet komplexe Choreografien und intensive Bilder, die – ganz gleich, ob in tänzerischer Leichtigkeit erscheinend oder in exzessivem Ausdruck – äußerst anspruchsvoll sind und von Mitteln des klassischen Balletts bis zum Ausdruckstanz reichen.
Es ist großartig, mit welcher Souveränität und welchem Können unsere Tänzerinnen und Tänzer diese Anforderungen umsetzen.

Sicher keine leichte Aufgabe war die Musikauswahl, um das Drama zum Ballett werden zu lassen. Neben einigen Jazz-Titeln entschied sich Martin Chaix vor allem für Kompositionen von William Grant Still (1895-1978), einem US-Komponisten afroamerikanischer Herkunft.

Das Ergebnis ist, als könnten Handlung, Ausdruck, Choreografie und Klänge gar nicht anders, als schon immer zusammenzugehören: Ein getanzter Stummfilm in 3D, so lebendig, wie es ihn jedoch nur auf einer Bühne geben kann.
Die Wirkung ist tief. Als der Vorhang fällt, braucht es ein kurzes Aufatmen der Gäste, bis teils stehender Applaus und Jubel die Leistung belohnen.
Großartig!

Jens Pittasch

nächste Vorstellungen: 2.3., 17.3., 1.4., 14.4., 16.5., 7.6.

Informationen

Musik-Playlist

BESETZUNG / MACHER

Fotos: Bernd Schönberger

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