Eigenproduktion des Piccolo Jugendklubs
Spielleitung: Matthias Heine
Premiere am 6. April 2024
Puhh! – Das saß!
Und nachdem sie den Kloß im Hals kurz verarbeitet hatten, standen alle im Saal – und erlebte das Piccolo einen Applaus, den man dort wohl noch nie gehört hat.
Wieder und wieder holte das begeisterte Publikum die Mitwirkenden auf die Bühne zurück, noch Stunden später wirkte die Energie, die sich in über einer Stunde entfaltet hatte.
Wenn man Relevanz erklären müsste, findet man sie genau hier – „dazwischen“.
Dazwischen.
Ja, wir alle sind stetig zwischen etwas. Das Jetzt ist dort irgendwo. Auch das Hier. Das Gleich ist es in ein paar Sekunden.
Und doch ist es so unterschiedlich, wie man dieses Dazwischen-Sein empfindet, und wie es konkret für jeden aussieht.
Genau hier, genau im Piccolo, wurde mir im Februar erneut sehr stark bewusst, wie völlig anders die heutigen Kinder und Jugendlichen aufwachsen – verglichen mit mir und allen, die in den letzten 60 Jahren erwachsen wurden.
In „Move On Move Over“, dem Tanztheaterstück der JugendTanzCompany des Piccolo Theaters, ging es um das Weitermachen, immer weitermachen in der scheinbaren Endlosigkeit des Zeitflusses. Vor zwei Monaten im Tanz und nun im Schauspiel war eine Verarbeitung dieser Eindrücke zu erleben, die atemberaubend ist.
Es ist eine so ganz andere Generation, als alle bisherigen der letzten Jahrzehnte – denn sie sind eine Multiple-Krisen-Generation.
Um sie herum Krisen und Krieg, echte- und pseudo Friedensdemos, Streik auf Streik, … – es ist unglaublich, womit sie umgehen, was jedoch zugleich ihre Normalität ist.
Im Vergleich dazu bin ich im „absoluten“ Frieden aufgewachsen, gab es zwar den kalten Krieg, gab es die Guten im Osten und die Bösen im Westen. Gab es, für uns unverständlich, irgendwas mit Vietnam. Ging es ständig um die „Verteidigung des Sozialismus mit der Waffe in der Hand“. Kam der Nato-Doppelbeschluss, die Nach(?)rüstung im Osten und wurde die freie Kultur-, Friedens- und Umweltbewegung auch hier stärker.
Doch hauptsächlich gab es Frieden.
Und nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion und der Wende schien der Drops gelutscht.
Was für ein Irrtum!
Erst nahm sich Putin die Krim (was hier weitgehend verdrängt wurde), dann kam Corona, dann der 23. Februar 2021.
„Stell dir vor es ist Krieg – und keiner geht hin.“
Nein, es ist kein Brecht-Zitat.
Ebenso wenig, wie der ihm angedichtete Nachsatz: „…- dann kommt der Krieg zu euch.“
Doch was machen, wenn der Krieg zu dir kommt?
Noch nicht vor die Haustür, doch auf vielfältige Weise in dein Leben?
Nicht hingehen scheidet aus. Informationen sind omnipräsent. Flüchtende werden zu Nachbarn und Klassenkameraden.
Doch die Schule ist nicht in der Lage (und sieht es wohl auch nicht als Aufgabe), die Schülerinnen und Schüler heute in den Krisen zu begleiten und ihnen Werte, Schutz, Halt, Verständnis und Unterstützung zu geben. Und zu Hause hören viele vermutlich ziemlichen Unsinn in jeder erdenklichen Richtung, driften Freundeskreise hier- und dorthin, wissen sie nicht, was wahr und falsch oder irgendwo dazwischen ist – eine sehr anspruchsvolle Situation.
Die Jugendlichen des Piccolo Jugendklubs beginnen historisch, mit Brecht und den letzten Kriegen in Europa. Beziehen Wolfgang Borchert ein, dessen „Hundeblume“ eines der für mich persönlich wichtigen Bücher war, in einer anderen Zwischen-Zeit. Weitere Texte und Zitate werden erspielt und lassen uns fühlen, wie es für sie sein mag – dazwischen. Zwischen Angst und Sehnsucht, Heimat und Ferne, dem Hier und dem fernen Pale Blue Dot*.
Spielleiter Matthias Heine findet Darstellungs- und Ausdrucksformen, die von Beginn an zeigen, dass es intensive 75 Minuten werden.
Und kaum wird man sich dessen bewusst, befindet man sich in einem ersten Höhepunkt – betitelt: „Sag mir, wo Du stehst.“ – Bei den nicht mehr ganz Jungen ist sofort eine Melodie dazu im Kopf und Textzeilen, die mich noch heute unangenehm übergriffig berühren… – doch die Darstellerinnen und Darsteller holen mich kraftvoll in die Gegenwart. Sie stellen Fragen an sich selbst, viele Fragen – und einige der Antworten, die sie als lebendes Diagramm geben, zeigen tiefe und teils erschreckende Einblicke in ihr Innerstes.
„Dazwischen“ ist zutiefst philosophisch und dabei vollkommen gegenwärtig.
Die Jugendlichen erspielen sich eine Urgewalt des menschlichen Ausdruckes, die zeigt, wie tief ihre Verunsicherung ist und zugleich ihre Liebe zum Leben.
„Dazwischen“ reiht sich ein, in vorherige Produktionen, wie „KRG“, „Verdunklung I/II“, „stolpern“ und bildet gemeinsam mit diesen einen Zyklus der jüngeren Geschichte und deren (vorläufigen) Höhepunkt.
Denn eines ist sicher. Im Piccolo ist dazwischen immer ein Davor.
Jens Pittasch
Es spielen: Laurenz Lorenz, Hermine Jähne, Lina Patzelt, Nico Kornisch, Charlie Müller, Sam Rudolph, Celina Siegfried, Lena Patzelt, Frieda Becker, Maja Kuschnir, Arian Wolff, Weronika Musialowska, Lamara Schröder und Sam Kruschwitz
Spielleitung: Matthias Heine
Choreographie: Johanna Hoff
Übersetzungen: Anna Diadik
nächste Vorstellungen: 11.4., 12.4., 13.4., 16.4., 17.4., 30.5., 31.5. – 19 Uhr
* – „Pale Blue Dot“: englisch für „blassblauer Punkt“, Name eines Fotos der Erde, das die Raumsonde Voyager-1 am am 14. Februar 1990 aus einer Entfernung von zirka 6 Milliarden Kilometern aufgenommen hat; es ist das aus dem größten Abstand gemachte Foto der Erde(siehe Foto; Quelle: NASA/JPL-Caltech – https://photojournal.jpl.nasa.gov/jpeg/PIA23645.jpg, Gemeinfrei, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=86976246)
Fotos: Michael Helbig