Anne – Eine Produktion des Piccolo Jugendklubs nach dem Tagebuch der Anne Frank
Spielleitung: Matthias Heine
Piccolo Theater Cottbus
Premiere am 26. April 2025, gesehen am 14. Juni
Was geschah vor 80 Jahren?
Was geschieht heute?
Bereits das Bühnenbild lässt erahnen, dass der Piccolo Jugendklub, unter Spielleitung von Matthias Heine, keine eindimensionale Betrachtung zeigen wird.
Vielmehr wird gleich zu Beginn deutlich, dass das Anliegen des Stückes nicht sein wird, das bekannte „Tagebuch der Anne Frank“ als Bühnenfassung zu erzählen.
Daher heißt es auch „Anne“.
Folgerichtlich haben die Jugendlichen zu einer interessante Erweiterung des Tagebuches gegriffen, um über Annes Leben dort weiterzuberichten, wo die im Versteck der Familie aufgefundenen Notizen enden.
Denn es gibt weitere Zeitzeugen und deren Erinnerungen. Zeugen, die die Verhaftung gesehen haben; Zeugen, die den Transport in die Lager miterlebten; Zeugen, die noch zwei Tage vor Annas Tod mit ihr sprachen.
Diese Ergänzungen des Tagebuches sind wichtig.
Denn trotz der Umstände, unter denen dieses persönliche Dokument entstanden ist, ist es in vielen Teilen Tagebüchern anderer Teenager vergleichbar. Es war ein Gesprächspartner für Anne, wie das bei vielen anderen Jugendlichen auch der Fall ist. Sie gab dem Buch einen Namen: Kitty.
Ein Tagebuch ist ein sicherer Raum für Gefühle und Gedanken. Ohne Angst vor Verurteilung, Kritik oder Konsequenzen kommt alles hinein: Wut auf die Eltern, Ärger mit Mitschülern, das Erleben der ersten Liebe, Unsicherheiten über das eigene Aussehen, geheime Wünsche – alles findet einen geheimen Platz. Und während man schreibt, „antwortet“ das Buch. Das Schreiben hilft, das Chaos der Gefühle und Gedanken zu ordnen.
Doch – während ein normales Tagebuch ein Begleiter im Alltag ist, wurde Anne Franks Tagebuch zu einem Überlebensinstrument in einer extremen Ausnahmesituation. Oft scheint es, dass sie es selbst garnicht so empfunden hat; tatsächlich aber war die Lage dramatisch und ihr bewusst. Die Aussagen in ihrem Tagebuch werden durch den Kontext von Versteck und Verfolgung radikal verstärkt und erhalten eine neue, absolut existenzielle Dimension.
Alle drei Aspekte – also die Weiterführung der Geschichte, das Tagebuch einer Jugendlichen und die Erlebnisse in einer Extremsituation – wurden in der Inszenierung des Piccolo Jugendklubs in beeindruckender Weise erarbeitet und werden äußerst ausdrucksstark auf die Bühne gebracht. Und sie werden mit dem Heute, mit den persönlichen Erlebnissen der jungen Darstellerinnen und Darsteller verbunden.
Denn auch sie kennen Verfolgung, Flucht und Tyrannei teils aus eigener Erfahrung. Und für sie, wie für uns alle, ist Krieg wieder ein sehr aktuelles Thema „im Alltag“ und im Leben. Gerade seit dem Vortag dieser Vorstellung am 14. Juni fliegen in bisher nicht gekanntem Ausmaß Jets und Raketen im Nahen Osten und zeigen die Unversöhnlichkeit eines 2.000-jährigen Konfliktes.
Vor einem Jahr schrieb ich über das damalige, neue Stück des Jugendklubs:
„Dazwischen“ reiht sich ein, in vorherige Produktionen, wie „KRG“, „Verdunklung I/II“, „stolpern“ und bildet gemeinsam mit diesen einen Zyklus der jüngeren Geschichte und deren (vorläufigen) Höhepunkt.
Denn eines ist sicher. Im Piccolo ist dazwischen immer ein Davor.“
Nun, um hier anzuknüpfen: „Anne“ ist anders als „Dazwischen“, viel leiser, intensiv auf eine ganz eigene, sehr persönliche und sehr nahegehende Weise. Mehrmals verlagern sich Spielanteile in die Zuschauerreihen, kommen die Beobachtungen von Zeitzeugen von der Seite der Gäste und werden diesen Textauszüge – wie beiläufig – in die Hand gegeben.
Das „Davor“ von 2024 führt auf direktem Weg zu „Anne“ – es führt scheinbar weit zurück und mehr als deutlich doch unmittelbar zu uns. Anders, als bei „Dazwischen“, fehlt am Ende etwas der Optimismus.
Jens Pittasch
Besetzung:
Es recherchieren und spielen: Laurenz Lorenz, Lina Patzelt, Lena Patzelt, Nico Kornisch, Charlie Müller, Celina Siegfried, Frieda Becker, Maja Kuschnir, Hermine Jähne, Arian Wolff, Carl Ferdinand Thomas, Isabella Stutzmann, Weronika Muisalowska, Lamara Schröder und Charlotte Fröhlich




Fotos: Michael Helbig